Folge 47 – März 2025
Vor 60 Jahren:
Meistercup-Drama: Weber spielt mit gebrochenem Schienbein durch, der 1. FC Köln nach Münzwurf-Entscheidung trotzdem raus
Als Meister der ersten Bundesligasaison 1963/64 nimmt der 1. FC Köln am europäischen Landesmeistercup 1964/65 teil. Über Partizan Tirana und Panathinaikos Athen erreicht der 1. FC das Viertelfinale, wo er gegen den englischen Champion, den FC Liverpool (trainiert vom legendären Bill Shankly), als Außenseiter gilt. Das Hinspiel findet am 10. Februar 1965 in Köln statt. Die Kölner, die ohne ihren verletzten Kapitän und 54er Weltmeister Hans Schäfer antreten müssen, sind gegen defensiv eingestellte Liverpooler zwar die spielbestimmende Mannschaft, erarbeiten sich aber nur wenige klare Gelegenheiten. Ein Pfostenschuss von Karl-Heinz Thielen ist ihre größte Chance, am Ende heißt es 0:0.
Das für den 3. März 1965 in Liverpool terminierte Rückspiel fällt kurzfristig aus, weil der Schiedsrichter eine Viertelstunde vor Anpfiff entscheidet, dass das Schneegestöber und der schneebedeckte Platz kein ordnungsgemäßes Spiel zulassen.
Am 17. März 1965 wird das Rückspiel an der Anfield Road nachgeholt. Diesmal sind die Liverpooler überlegen, scheitern bei ihren Angriffen aber meist am überragenden Kölner Torwart Anton Schumacher, der bestens unterstützt wird von seinen Verteidigern Wolfgang Weber und Matthias Hemmersbach. Die Partie bleibt – wie schon das Hinspiel – torlos, weshalb nach damaligem Reglement ein Entscheidungsspiel auf neutralem Boden angesetzt wird.
Als Austragungsort für das dritte Aufeinandertreffen wählt die UEFA Rotterdam. Das dortige Stadion „De Kuip“ ist an jenem 24. März 1965 ausverkauft. Die „Geißböcke“ haben den Vorteil, dass der Anreiseweg für sie und ihre Fans etwas kürzer ist als der der Liverpooler. Etwa 20.000 Kölner begleiteten ihre Mannschaft in die Niederlande.
Es entwickelt sich schnell ein offener Schlagabtausch, in dem Liverpool in der 21. Minute durch Ian St. John der Führungstreffer gelingt. Zu diesem Zeitpunkt sind die Kölner dezimiert, denn Wolfgang Weber ist kurz zuvor nach einem Zusammenprall mit Gordon Milne verletzt in die Kabine gebracht worden. Weber hat heftigste Schmerzen und wird provisorisch behandelt, während das Spiel weiterläuft (Auswechslungen sind noch nicht gestattet; dass sich Weber einen Wadenbeinbruch zugezogen hat, wird erst später diagnostiziert).
Wolfgang Weber, Spitzname: „Bulle“
(Foto: Wikipedia)
In der 37. Minute gelingt es den Liverpoolern ein weiteres Mal, die Unterzahl der Kölner auszunutzen: durch ein Abstaubertor von Roger Hunt (dessen Bewacher Weber gerade behandelt wird) erhöhen sie auf 2:0. Kurz vor dem Pausenpfiff gelingt Karl-Heinz Thielen per Kopf der Anschlusstreffer zum 1:2.
Zur zweiten Halbzeit kommt auch Wolfgang Weber, in der Pause mit schmerzstillenden Spritzen behandelt, wieder auf den Platz, obwohl es ihm keineswegs besser geht und er nicht laufen kann (um seinen Fitnesszustand zu testen, hatte er in der Kabine von der Umkleidebank springen müssen; da er das aushielt, wurde er wieder eingesetzt…). Er beschränkt sich auf Anweisung von Trainer Knöpfle darauf, sich in der gegnerischen Hälfte, zumeist in der Nähe der Außenlinie, aufzuhalten. Doch trotz dieser erheblichen Schwächung schaffen die Kölner schon bald den Ausgleich zum 2:2, und zwar durch einen Distanzschuss von Schäfer-Vertreter Hannes Löhr in der 48. Minute.
In weiteren Verlauf des Spiels verzweifeln die Kölner am belgischen Schiedsrichter Schaut: der verweigert ihnen einen aus ihrer Sicht klaren Foulelfmeter, reagiert nicht, als nach etwa 70 Minuten Löhr von Liverpool-Kapitän Ron Yeats mit einem Faustschlag niedergestreckt wird, und erkennt einen Treffer von Stürmer Heinz Hornig nicht an. Die letzte Chance vor Ablauf der 90 Minuten hat ausgerechnet der schwer angeschlagene Wolfgang Weber, doch er vergibt knapp, so dass es in die Verlängerung geht.
Die Extra-Zeit verläuft ereignisarm. Beide Mannschaften – allen voran der schwer verletzte Wolfgang Weber, der heldenhaft die Zähne zusammenbeißt – sind am Rande der Erschöpfung; kein Wunder, denn der Boden im De-Kuip-Stadion ist inzwischen in einem völlig desolaten Zustand und besteht zu großen Teilen nur noch aus Schlamm. Das Spiel endet nach 120 Minuten 2:2 – das dritte Unentschieden im dritten Spiel…
Der Gesamtsieger ist nun durch Münzwurf zu ermitteln, denn Elfmeterschießen gibt es noch nicht. Schiedsrichter Schaut benutzt zur Entscheidungsfindung eine kleine hölzerne Scheibe, die eine rote und eine weiße Seite hat. Er ruft die beiden Mannschaftskapitäne zusammen und bestimmt Rot als die Farbe Liverpools, Weiß als Farbe Kölns. Nach dem Wurf landet die Scheibe jedoch nicht flach auf dem Boden, sondern bleibt auf der Kante im Morast stecken, weshalb der Wurf wiederholt werden muss. Nach dem zweiten Wurf zeigt die Scheibe mit der roten Seite nach oben, wodurch die Entscheidung – äußerst glücklich! – zugunsten des FC Liverpool gefallen ist.
Was für ein Drama! Das Spiel geht zu Recht in die Europa-Cup-Geschichte ein.
Der Kölner Mittelfeldregisseur Wolfgang Overath sagte danach: „Es ist furchtbar, auf diese Weise zu verlieren“.
Liverpool-Kapitän Ron Yeats, der gemeinsam mit dem Kölner Kapitän Hans Sturm am dichtesten am Geschehen war, erzählte später, die nach dem ersten Wurf im Morast steckende Scheibe habe sich deutlich in die für seine Liverpooler ungünstige Richtung geneigt, weshalb er den Schiedsrichter umgehend aufgefordert habe, den Wurf zu wiederholen, was dieser dann auch getan habe (die Kölner Karl-Heinz Thielen und Hannes Löhr bestätigten diese Version).
Bill Shankly, Trainer des FC Liverpool, sagte über den 1. FC Köln: „This team didn’t deserve to drop out through the toss of a coin. I have to be honest. Liverpool were not the better team.“ (Zu Deutsch: „Dieses Team hat es nicht verdient, durch eine Münze auszuscheiden. Ich muss ehrlich sein. Liverpool war nicht das bessere Team.“)
Kölns Trainer Georg Knöpfle äußerte sich wie folgt: „Das Ganze hat doch nichts mit Sport zu tun, es darf doch nicht wahr sein, dass nach drei unentschiedenen Spielen in genau fünf Stunden ein Los entscheidet, eine Münze, wie sie Kinder zum Spielen nehmen. Wenn man ein Elfmeterschießen als Entscheidung herangezogen hätte, so würde Ich darin noch einen Sinn sehen, weil das mit Fußball ein wenig zu tun hat. Doch das Los mit einer Münze? Es ist einfach unfassbar.“
Der WDR-Radioreporter sagte: „Als die Münze das erste Mal auf dem Boden lag, sah ich, wie Yeats sich verzweifelt an den Kopf griff, und dann wurde die Wahl (…) wiederholt, der Englische Fußballmeister war glücklicher, er darf sich freuen. Aber er hat den 1. FC Köln nicht besiegt.“
Die Aufstellung der Kölner: Anton Schumacher, Anton Regh, Fritz Pott, Matthias Hemmersbach, Wolfgang Weber, Wolfgang Overath, Hans Sturm, Christian Müller, Hannes Löhr, Heinz Hornig, Karl-Heinz Thielen; Trainer: Georg Knöpfle
Die Liverpooler schieden übrigens im folgenden Halbfinale gegen den späteren Cupsieger Inter Mailand aus (in Liverpool siegten sie mit 3:1, in Mailand verloren sie mit 0:3).
Norbert Voshaar
[Lit.: „Hennes & Co. – Die Geschichte des 1. FC Köln“ (2000) / Tom Bender u. Ulrich Kühne Hellmessen: „Verrückter Europacup“ (1999) / Wikipedia]