Folge 52 – August 2025
Vor 70 Jahren:
10 Jahre nach Kriegsende: Erstes Länderspiel zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland in Moskau (3:2)
Es ist damals, vor nunmehr 70 Jahren, weit mehr als ein Fußballspiel: Gerade einmal zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Begegnung zwischen der ein Jahr zuvor bei der WM 1954 in der Schweiz überraschend zum Weltmeister gekürten bundesdeutschen Nationalelf und dem Team der Sowjetunion, das am 21. August 1955 in Moskau stattfindet, ein Politikum, denn im Sommer 1955, mitten im „Kalten Krieg“, befinden sich noch mehr als 10.000 deutsche Kriegsgefangene, um deren Freilassung sich die Bonner Bundesregierung auf diplomatischem Wege bemüht, in sowjetischen Lagern.
Regierungskreise befürchten zunächst eine Störung ihrer politischen Bemühungen durch die Spielansetzung zwei Wochen vor dem geplanten UdSSR-Besuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer, doch es kommt ganz anders. Bei sommerlichen Temperaturen wirkt der Auftritt des Weltmeisters in der russischen Hauptstadt wie ein Eisbrecher.
Vorne die Mannschaftskapitäne Igor Netto und Fritz Walter; hinter Fritz Walter: Fritz Herkenrath und Horst Eckel.
(Foto aus dem Buch von Thomas Grimm „Der Kracher von Moskau“)
Das Spiel, geleitet vom 54er Final-Schiedsrichter William Ling aus England, findet vor 80.000 Zuschauern im Moskauer Dynamo-Stadion statt, darunter sind auch 1.500 deutsche Fans (jeweils zur Hälfte aus Ost- und West-Deutschland). Sie fahren mit der Eisenbahn 60 Stunden lang vom Berliner Ostbahnhof nach Moskau; organisiert wird die fünftägige „Gesellschaftsreise“ von Seiten der DDR über das „Deutsche Reisebüro“ und
über den FDGB („Freier Deutscher Gewerkschaftsbund“). Neben dem Länderspiel können auch der Kreml, die Landwirtschaftsausstellung, die Lomonossow-Universität und andere Sehenswürdigkeiten besucht werden.
Die sowjetischen Zuschauer zeigen sich frei von Ressentiments gegenüber den Gästen aus dem Land des erbitterten Kriegsgegners der Jahre 1941 bis 1945 (27 Millionen Sowjetbürger verloren in diesem Krieg ihr Leben!) und sehen ein spannendes und gutklassiges Match, in dem Nikolai Parschin nach 16 Minuten die 1:0-Führung für die Gastgeber erzielt.
Die deutschen Spieler stellen sich nun besser auf die gegnerische Taktik der andauernden Positionswechsel ein, werden selbst offensiver und markieren in der 29. Minute durch einen 18-Meter-Schuss Fritz Walters, den Anatoli Baschaschkin noch abfälscht, den 1:1-Ausgleich. Weitere deutsche Schüsse wehrt Klassetorhüter Lew Jaschin souverän ab. Bis zur Halbzeit bleibt es beim 1:1. Acht Minuten nach Wiederanpfiff gelingt Hans Schäfer mit einem Flachschuss aus spitzem Winkel die deutsche Führung. Die sowjetische Mannschaft bemüht sich nun äußerst energisch um den Ausgleich und hat in der 70. Minute damit Erfolg, als Anatoli Maslenkin nach der zwölften Ecke für die UdSSR an den Ball kommt und von der Strafraumgrenze halbhoch zum 2:2 in die rechte Ecke des deutschen Tores trifft. Die Gastgeber forcieren nun ihr Spiel noch einmal und treffen schon in der 74. Minute erneut, denn nachdem Erich Juskowiak einen Schuss von Sergei Salnikow per Kopf abgewehrt hat, ist Anatoli Iljin zur Stelle und trifft zum 3:2 für die UdSSR. In der Schlussviertelstunde ist die sowjetische Elf weiterhin überlegen, insbesondere angetrieben
vom linken Läufer Igor Netto, dessen präzises Zuspiel und gute Technik beeindrucken. Letztlich bleibt es in dieser politisch brisanten, aber sportlich äußerst fairen Partie beim verdienten 3:2 für die Gastgeber.
Die sowjetischen Spieler sind erleichtert, das prestigeträchtige Spiel gewonnen zu haben, waren sie doch vor der Begegnung von kommunistischen Parteifunktionären stark unter Druck gesetzt worden. Siegtorschütze Anatoli Iljin erklärte 54 Jahre später in einem Interview: „Im Falle einer Niederlage wären am gleichen Tage alle Spieler und die Trainer entlassen worden“.
Rückblickend darf man wohl konstatieren, dass das historische Länderspiel vom 21. August 1955 durchaus zum Abbau des seinerzeit in der Sowjetunion herrschenden Misstrauens gegenüber der Bundesrepublik beigetragen haben dürfte. Zudem sorgte es für ein freundliches Klima im Vorfeld des ersten Staatsbesuchs des deutschen Bundeskanzlers in der Sowjetunion (8. bis 14. September 1955), bei dem Konrad Adenauer
schließlich die Freilassung der letzten deutschen Soldaten aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft erwirken kann.
Die bundesdeutsche „Diplomaten-Elf“ vom 21. August 1955: Fritz Herkenrath (RW Essen), Erich Juskowiak (RW Oberhausen), Jupp Posipal (HSV), Horst Eckel (1. FC Kaiserslautern), Werner Liebrich (1. FC Kaiserslautern), Gerhard Harpers (SV Sodingen), Helmut Rahn (RW Essen), Fritz Walter (1. FC Kaiserslautern), Max Morlock (1. FC Nürnberg) [ab 72. Minute Willi Schröder (Werder Bremen)], Jupp Röhrig (1. FC Köln), Hans Schäfer (1. FC Köln); Trainer: Sepp Herberger
Über dem Dynamo-Stadion ein überlebensgroßes Doppelporträt von Lenin und Stalin.
(Foto aus dem Buch von Thomas Grimm „Der Kracher von Moskau“)
Norbert Voshaar
[Lit.: Grafschafter Nachrichten vom 22.8.1955 / Fritz Walter: „Spiele die ich nie vergesse“ (1955) / Horst Eckel u. Volker Neumann:
„Die 84. Minute“ (2004) / Thomas Grimm (Hrsg.): „Der Kracher von Moskau. Fußball zwischen Politik und Sport – Das Länderspiel
Sowjetunion gegen die Bundesrepublik Deutschland am 21. August 1955“ (2015) / Wikipedia]