Vor 50 Jahren:
Erwin Kostedde wird erster schwarzer Nationalspieler Deutschlands
Nach Gerd Müllers Rücktritt aus der bundesdeutschen Nationalmannschaft im Anschluss an den WM-Sieg im Sommer 1974 ist man beim DFB auf der Suche nach einem geeigneten Nachfolger für die Mittelstürmerposition. Beim EM-Qualifikationsspiel auf Malta am 22. Dezember 1974 darf sich erstmals der dribbel- und kopfballstarke Erwin Kostedde von Kickers Offenbach (damals Bundesliga-Vierter) auf diesem Posten versuchen. Mit dem 1946 in Münster geborenen Sohn eines afro-amerikanischen US-Soldaten und einer deutschen Mutter spielt an jenem Sonntag erstmals ein schwarzer Fußballer für Deutschland. Zum Zeitpunkt seiner Berufung hat der 28-Jährige bereits einige Stationen hinter sich – und leider auch schon diverse Erfahrungen mit Rassismus gemacht. Von Münster (SC 08, Saxonia und Preußen) war er über Duisburg und Lüttich (dort wurde er mit Standard 1969, 70 und 71 belgischer Meister sowie 1970/71 mit 26 Toren Erstliga-Torschützenkönig) im Sommer 1971 nach Offenbach gekommen. In der Saison 1971/72 hatte er die Kickers mit 27 Treffern aus der Regionalliga Süd zurück in die Bundesliga geschossen (der Klub blieb damals in allen 36 Punktspielen sowie in der Bundesliga-Aufstiegsrunde ohne Niederlage!). Von September 1972 bis Dezember 1974 erzielt Erwin Kostedde dann 42 Bundesligatore für den OFC, so dass seine Berufung in die Nationalelf sicherlich verdient ist (im Oktober `74 schoss er übrigens beim 4:3 seiner Kickers gegen Gladbach das damalige „Tor des Monats“, das später auch die Wahl zum „Tor des Jahres 1974“ gewinnt; Kostedde lässt bei seinem wunderschönen Volleyschuss – nach Annahme des von links hereingeschlagenen Balles mit der Brust – Gegenspieler Berti Vogts und Torhüter Wolfgang Kleff keine Chance).
(Foto: „fussballdaten“)
Sein Debüt-Länderspiel auf Malta gewinnt Erwin Kostedde mit der deutschen Elf knapp mit 1:0. Er spielt ordentlich und bereitet das goldene Tor durch Bernd Cullmann vor. Beim nächsten deutschen Länderspiel , das am 12. März 1975 in England stattfindet, steht Erwin Kostedde erneut im Kader. Eigentlich müsste für ihn ein Traum wahr werden: Er, der wegen seiner Hautfarbe oft Gehänselte und Beleidigte, der zeitweilig in einem Erziehungsheim und ohne Vater aufwuchs, steht vor 100.000 Zuschauern im Londoner Wembley-Stadion, dem „Mekka des Fußballs“, neben Heroen wie Franz Beckenbauer, Sepp Maier und Berti Vogts in der deutschen Startelf! Doch es wird nicht sein Spiel – er agiert äußerst nervös und unkonzentriert, so dass er kurz nach dem 2:0 für England, das in der 66. Minute fällt, ausgewechselt wird. Eine Erklärung für Kosteddes schwaches Spiel gegen England versucht Alexander Heflik in seinem 2021 erschienenen Buch „Erwin Kostedde – Deutschlands erster schwarzer Nationalspieler“. Dort berichtet Heflik, ein „Fan“ habe damals kurz vor der Abfahrt der deutschen Mannschaft vom Team-Hotel im Beisein Kosteddes lautstark gerufen: „Einen Nig… haben sie jetzt auch noch, die Deutschen“. Zwar habe Nationalkeeper Sepp Maier den Schreihals daraufhin vehement zusammengestaucht, gleichwohl sei Erwin Kostedde durch diese Äußerung völlig verunsichert worden und während des gesamten Spiels wie gelähmt gewesen.
Die nächsten drei Länderspiele finden ohne Erwin Kostedde statt, der zur Saison 75/76 zu Hertha BSC wechselt. Für das EM-Qualifikationsspiel gegen Griechenland im Oktober 1975 wird er noch einmal für die Nationalelf nominiert. Beim 1:1 spielt er die kompletten 90 Minuten, es wird jedoch sein letzter Länderspieleinsatz bleiben.
1976 geht Erwin Kostedde zum Bundesliga-Rückkehrer Borussia Dortmund, wird dort aber nicht glücklich, zumal es traurigerweise vorkommt, dass BVB-Anhänger ihn nach schwächeren Leistungen wegen seiner Hautfarbe verhöhnen („Kohleneimer“ rufen sie). 1978 zieht es ihn deshalb (nach einer kurzen Stippvisite in der 2. Liga Nord bei Union Solingen) zurück nach Lüttich. 1979 verpflichtet ihn mit Stade Laval ein französischer Erstligist, und obwohl Erwin Kostedde immer nur zu den Spielen nach Frankreich fährt, wird er mit 21 Saisontoren Torschützenkönig. Trotzdem geht er nur ein Jahr später schon wieder zurück nach Deutschland, und zwar zum Bundesligaabsteiger Werder Bremen in die 2. Liga Nord. Dort bestreitet Kostedde in der Saison 80/81 alle 42 Saisonspiele und hat mit 29 Toren einen großen Anteil am sofortigen Wiederaufstieg Werders. In der Bundesligasaison 1981/82 ist Erwin Kostedde in 33 Spielen dabei, schießt 9 Tore und landet mit Neuling Werder auf einem sehr guten 5. Platz, der zur Teilnahme am UEFA-Cup berechtigt. Schluss machen möchte er aber auch jetzt, mit 36 Jahren, immer noch nicht, weshalb er ein Jahr beim Zweitligisten VfL Osnabrück dranhängt (seine Saisonbilanz 82/83 – 30 Einsätze/12 Tore – kann sich sehen lassen).
Dass ein Mitgrund für sein Weiterspielen ist, dass er mittlerweile wegen hochriskanter Geldanlagemodelle, die ihm dubiose Berater vermittelt haben, in finanziellen Schwierigkeiten steckt, weiß damals noch niemand. Da keiner der Jobs, die Erwin Kostedde nach seiner Spielerkarriere annimmt, von Dauer ist und ihm zunehmend Alkoholprobleme zu schaffen machen, rutscht er in die Sozialhilfe und begeht Mitte der Achtziger Jahre einen Suizidversuch.
Doch der Tiefpunkt ist noch nicht erreicht, es kommt noch schlimmer: Als im August 1990 die Coesfelder Spielothek „Joy“ überfallen wird (Beute: ca. 150 DM), behaupten Zeugen, Erwin Kostedde, mittlerweile im nahen Billerbeck wohnhaft, sei der Täter gewesen. Kostedde wird vor den Augen von Frau und Sohn verhaftet und muss für ein halbes Jahr in Untersuchungshaft, während der er erneut versucht, sich umzubringen. Der Fall geht durch die Medien. Nach einem Aufenthalt im Landeskrankenhaus Münster beginnt im April 1991 der Prozess vor dem Landgericht Münster. Erwin Kostedde, dessen Ehefrau Monika während der Verhandlung immer an seiner Seite ist, drohen 5 Jahre Haft. Am 13. Juni 1991 wird er jedoch vom Vorwurf des Raubüberfalls freigesprochen. Die Tat ist ihm nicht nachzuweisen, es gab haarsträubende Ermittlungspannen auf Seiten der Polizei, und Zeugen mussten belastende Aussagen zurückziehen. Dennoch bleibt die Geschichte an ihm und seinem ohnehin lädierten Ruf kleben. Versuche, im Amateurbereich als Trainer zu arbeiten, scheitern zumeist nach kurzer Zeit; die Ausbildung zum Fußballlehrer absolviert er zwar, aber leider kommt er auf keinen grünen Zweig.
Als 2019 seine Frau an Krebs verstirbt, ist das ein weiterer herber Tiefschlag für Erwin Kostedde.
2021 lässt er sich für den Dokumentarfilm „Schwarze Adler“ interviewen. In diesem sehenswerten Film werden die Erfahrungen schwarzer Spieler mit rassistischen Vorurteilen und Anfeindungen im deutschen Fußball thematisiert. Neben Erwin Kostedde treten darin u.a. auch Otto Addo, Gerald Asamoah, Cacau, Jimmy Hartwig und Steffi Jones auf. Im gleichen Jahr erscheint auch das erwähnte, sehr informative Buch von Alexander Heflik („Erwin Kostedde – Deutschlands erster schwarzer Nationalspieler“), für das der Autor Erwin Kostedde innerhalb von 5 ½ Jahren 70 Mal traf und befragte.
Heute, 50 Jahre nach Erwin Kosteddes Premierenspiel, ist die Mitwirkung schwarzer Spieler in der deutschen Nationalelf zum Glück gang und gäbe. Leider gibt es jedoch auch in der Gegenwart noch immer „Fans“, die nicht-weiße Spieler bzw. Spieler mit ausländischen Wurzeln im deutschen Nationaltrikot nicht akzeptieren wollen…
Norbert Voshaar
[Lit.: Kicker-Almanach 2022 (2021) / Alexander Heflik: „Erwin Kostedde – Deutschlands erster schwarzer Nationalspieler“ (2021) / Jürgen Bitter: „Deutschlands Fußball-Nationalspieler“ (1997) / Raphael Keppel: „25 Jahre Fußball-Bundesliga“ (1988) / Wikipedia]