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Folge 23 – März 2023

Old Soccer ball on the green grass, top view

Vor 40 Jahren:

Lutz Eigendorf, geflüchteter DDR-Nationalspieler, verunglückt unter mysteriösen Umständen tödlich

Am 5. März 1983 kommt es gegen 23 Uhr in Braunschweig zu einem schweren Autounfall. Der schwerverletzte einzige Insasse des frontal gegen einen Baum geprallten Alfa Romeo GTV 6 ist der 26-jährige Lutz Eigendorf, Bundesligaspieler der Braunschweiger Eintracht. Zwei Tage später erliegt er seinen Verletzungen. Eigendorf, am 16. Juli 1956 in Brandenburg/Havel (damals DDR) geboren, war ab 1970 Spieler beim BFC Dynamo Berlin, dem Lieblingsfußballclub von DDR-Staatssicherheits-Chef Erich Mielke. Er brachte es dort zum Mannschaftskapitän und zum DDR-Nationalspieler. Im März 1979 – der BFC Dynamo war auf dem Wege zu seiner ersten DDR-Oberliga-Meisterschaft – setzte sich Eigendorf nach einem der seltenen Spiele „im Westen“ (in diesem Fall beim 1. FC Kaiserslautern) unerlaubt von seinem Team ab und blieb In der Bundesrepublik – damals ein Politikum ersten Ranges. Lutz Eigendorf schloss sich dem 1. FC Kaiserslautern an und absolvierte für diesen von 1980 bis 1982 53 Bundesligapartien, dann wechselte er innerhalb der Bundesliga zu Eintracht Braunschweig.

Auf Eigendorfs „Verbrechen“ der „Republikflucht“ reagierten die DDR-Behörden mit größter Härte. Sein Name wurde aus allen öffentlichen Spielerlisten und Spielberichten getilgt, sein Kopf aus Mannschaftsfotos herausretuschiert und seine in der DDR verbliebene Familie (Ehefrau, Tochter, Eltern) streng von der Stasi beschattet (inkl. Verwanzung von Wohnung und Telefon). Auf Eigendorfs Ehefrau wurde ein IM (Informeller Mitarbeiter der Stasi) angesetzt, der den Auftrag hatte, eine möglichst enge persönliche (Liebes-)Beziehung zu ihr aufzubauen. „IM Peter“ gelang dies innerhalb kurzer Zeit so umfassend, dass Eigendorfs Ehefrau im Juni 1979 die Scheidung von ihrem in den Westen geflohen Mann einreichte und bald darauf ihren neuen Lebensgefährten heiratete.

Aber auch auf dem Territorium der Bundesrepublik arbeiteten Stasi-Akteure weiter intensiv am „Fall“ Eigendorf. Lutz Eigendorf, der Ehefrau und Tochter nie wiedersah, wurde durchgehend beobachtet und ausgeforscht, und als er es im Februar 1983 wagte, dem ARD-Polit-Magazin „Kontraste“ vor dem Hintergrund der Berliner Mauer ein DDR-kritisches Fernsehinterview zu geben, brachte er damit offensichtlich das Fass zum Überlaufen. Die Stasi (und ihr sich persönlich beleidigt und verhöhnt fühlender Chef Mielke) soll danach die Tötung des „Verräters“ Eigendorf beschlossen und sie – raffiniert getarnt als Autounfall – wenig später auch durchgeführt haben. Sehr viele Indizien sprechen dafür. Fußballtrainer Jörg Berger, 1979 selbst „Republikflüchtling“ (er arbeitete u. a. bei Schalke 04, Eintracht Frankfurt, Hannover 96 und beim 1. FC Köln), schrieb in seiner Autobiografie: „Das war zu 95 Prozent Mord“. Zu 100 Prozent aufgeklärt ist der Fall bis heute nicht.


Vor 75 Jahren:

Bernard „Ennatz“ Dietz, Kapitän der Europameisterelf von 1980, geboren

Vor 75 Jahren, am 22. März 1948, wird er in Bockum-Hövel/Westfalen geboren: Bernard Dietz, den ganz Fußball-Deutschland bis heute „Ennatz“ nennt (der Spitzname stammt aus seiner Kindheit, als ein Nachbarmädchen den Vornamen Bernard noch nicht richtig aussprechen kann und stattdessen „Ennatz“ daraus macht). Als 9. und jüngstes Kind des Bergmanns Franz Dietz absolviert er nach der Volksschule eine Lehre als Schmied/Schlosser, in deren Verlauf er bei einem Arbeitsunfall 2 Finger der rechten Hand verliert.

Bis 1970 spielt Bernard Dietz Linksaußen beim heimatlichen SV Bockum-Hövel in der Landesliga, dann wechselt er zum Bundesligisten MSV Duisburg, wo er es bald zum Stammspieler und später auch zum Mannschaftskapitän bringt. Ab 1972 wird „Ennatz“ Dietz als linker Außenverteidiger eingesetzt, zeigt aber weiterhin auch Zug zum Tor, und zwar besonders dann, wenn die „Zebras“ in engen Spielen in der Schlussphase noch dringend ein Tor benötigen. Er ist einer, der nie aufgibt, stets rackert und immer mit gutem Beispiel vorangeht, weswegen er es 1974 – obwohl sein MSV zumeist im Mittelmaß steckt oder gar in Abstiegsgefahr schwebt – in die deutsche Nationalmannschaft schafft. Dort wird er ebenfalls Stammspieler, wird 1976 Vizeeuropameister (das EM-Finale von Belgrad gegen die CSSR geht leider im Elfmeterschießen verloren) und bei der

WM 1978 in Argentinien in fünf der sechs deutschen Spiele eingesetzt. 1979 wird Bernard Dietz Zweiter bei der Wahl zu Deutschlands Fußballer des Jahres (er bekommt nur 4 Stimmen weniger als Sieger Berti Vogts). Der Höhepunkt seiner Karriere ist ohne Zweifel die EM 1980 in Italien, bei der Bernard Dietz die deutsche Elf als Kapitän ins Endspiel gegen Belgien führt, das mit 2:1 gewonnen wird (beide Tore erzielt Horst Hrubesch). 1981 ist nach 53 Länderspielen für ihn Schluss mit der Nationalelf. 1982 steigt der MSV Duisburg nach 19 Jahren erstmals aus der Bundesliga ab, in der er lange die Rolle des Angstgegners der Münchner Bayern innehatte (von 1970/71 bis 1978/79 verliert der MSV nur ein Heimspiel gegen die stets hoch favorisierten Bayern, gewinnt aber deren sieben; darunter ist das absolute Highlight das unglaubliche 6:3 nach 2:3-Rückstand vom 5. November 1977, bei dem Verteidiger Bernard Dietz die ersten 4 [!] MSV-Tore erzielt; der „Kicker“ schreibt damals: „MSV Dietzburg gegen Bayern München 6:3“).

Der 34jährige „Ennatz“ Dietz muss nun den Verein wechseln, will er weiter in der höchsten Klasse spielen. Er bleibt im Ruhrpott und unterschreibt beim FC Schalke 04. Leider kann er nicht verhindern, dass ein Jahr später auch sein neuer Klub absteigt. Diesmal geht Bernard Dietz mit in die 2. Liga und schafft 1984 den sofortigen Wiederaufstieg mit den Knappen. Nach drei weiteren Erstligaspielzeiten mit Schalke beendet er 1987 seine lange aktive Karriere. An deren Ende stehen für den stets fairen und bescheidenen „Ennatz“ 495 Bundesligaspiele und 77 Tore zu Buche (394 Spiele/70 Tore für den MSV Duisburg, 101 Spiele/7 Tore für Schalke 04). Bemerkenswert ist, dass Bernard Dietz in seinen fast 500 Bundesligaspielen kein einziges Mal vom Platz gestellt wird – und das als Verteidiger, der sich in puncto Kampfkraft und Einsatzfreude von niemandem übertreffen ließ. Bemerkenswert ebenfalls, dass er mit seinen 77 Bundesligatoren der torgefährlichste Verteidiger der Bundesligahistorie ist.

Nach 1987 wird Bernard Dietz Trainer bzw. Co- und Jugend-Trainer, zunächst beim ASC Schöppingen, dann in Verl, Bochum, Ahlen und – wie könnte es anders sein -beim MSV Duisburg. 2005 geben die Anhänger des MSV Duisburg per Mehrheitsvotum dem Vereinsmaskottchen (einem Zebra) offiziell den Namen „Ennatz“, 2010 belegt Bernard Dietz bei der Wahl der größten „MSV Vereins-legenden“ den 1. Platz. In seinen späteren Jahren engagiert er sich auch in den Vereinsgremien des MSV Duisburg.


Norbert Voshaar [Lit.: Dieter Ueberjahn: „Stars der Bundesliga“ (1981) / Kai Griepenkerl: „Ata, Ennatz, Susi, Yyyves – 82 Köpfe des Revierfußballs“ (2012) / Udo Muras: „Das war zu 95 Prozent Mord“ (in: GN vom 6.3.2013) / Jutta Braun u. René Wiese: „Der mysteriöse Tod des Lutz Eigendorf“ (in: Diethelm Blecking u. Lorenz Peiffer: „Sportler im Jahrhundert der Lager“, 2012) / Kicker-Almanach 2023 (2022) / Wikipedia]